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Die Nebel der Wahrheit

Entscheidungen – wie treffe ich die richtige Entscheidung? Jeder Mensch hat seine eigene Meinung. Jeder schaut aus einer eigenen Perspektive, sieht die Dinge in einem eigenen Licht. Das ist grundsätzlich auch kein Problem. Aber was, wenn es um die Gesundheit eines Menschen geht, um Leben und Tod vielleicht? Was, wenn die Experten in Gesundheitsdingen mehr Fragen aufwerfen, als sie in einem Gespräch beantworten? Was soll ich tun, wenn ich Angst um mein Leben habe und mich in solch einer Situation dem Wissen anderer Menschen ausliefern muss? 

Während ich darüber nachdachte, saß draußen vor dem Fenster meines Restaurants ein kleiner Gnom auf seinen Knien unter einem Busch. Die Blätter tanzten im Wind und an den Stellen, die von der Sonne angestrahlt wurden, leuchteten sie in einem hellen und warmen Grün. Der kleine Mann buddelte mit den bloßen Händen in der lockeren Erde. Ich beobachtete wie er inne hielt und einen kleinen, runden Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger in das Sonnenlicht hielt.

„Hab ich dich!“, sagte er leise, aber nachdrücklich, während er ein Auge zusammenkniff und sich konzentriert auf die Lippen biss.  

Neugierig beugte ich mich über den Tisch und setzte mich ganz vorne auf die Stuhlkante. Die Strahlen der untergehenden Sonne bildeten einen Lichtkranz um das kleine Etwas. Es sah aus wie ein schwarzer Stein. Es wirkte dunkel und undurchsichtig, denn die mir zugewandte Seite lag im Schatten. Der kleine Kerl schien ehrfürchtig, wie er da am Boden saß und auf das Ding in seinen Fingern schaute.  

Blitzschnell ließ er es in seiner Hand verschwinden. Fast ruckartig fiel es in seine Faust. An seiner Kopfhaltung konnte ich erkennen, dass er mich bemerkt hatte. Er sprang auf die Füße und drehte sich zu mir. Seine Hände steckte er zu Fäusten geballt in die Taschen seiner blauen Latzhose und zog die Schultern hoch. Die kleinen schwarzen Augen direkt auf mich gerichtet, fixierte mich sein Blick.

„Wer bist du?“ Seine Gedankenstimme erreicht mich unvermittelt. „Du kannst mich sehen, ich spüre das.“   

Ich nickte: „Ich sehe dich. Was hast du gefunden? Es sah aus wie ein Stein, ein schwarzer Stein.“

„Spionierst du immer Leuten nach, die du nicht kennst?“ fragte er argwöhnisch und ein wenig ärgerlich. 

Ich lächelte und hoffte, dass es entwaffnend wirkte. „Scheinbar hast du nicht damit gerechnet, dass dich jemand sehen kann. Du solltest vorsichtiger sein, wenn du so geheimnisvolle Dinge tust. Aber du brauchst keine Angst haben, kein Mensch würde mir glauben, dass es dich gibt. Erzähl, was hast du da?“ 

„Du willst es tatsächlich wissen, wie?“ 

„Ja“, sagte ich mit fester Stimme. 

Der Gnom schmuggelte sich ins Restaurant, schlängelte sich durch die Tischreihen und kletterte mir gegenüber auf den Stuhl. Ich war erstaunt, wie wendig er ihn erklomm. Dann saß er da. Seine knollige Nase reichte knapp über die Tischkante und die schwarzen Äuglein leuchteten wie dunkle Perlen. Sie sahen mich unverwandt an. 

Er war schön, obwohl in seinem Gesicht kaum ein Ding zum anderen passte. Die Augen schauten weich und warm wie die Sonnenstrahlen auf den Blättern des Busches, die knollige Nase biss sich mit den eher schmalen Lippen und die weichen, dunklen Struwelhaare fielen ihm jugendlich, spitzbübisch ins Gesicht. Das zusammen ergab das Bild eines alterlosen Wesens. 

„Wie alt bist du?“, war deshalb die erste Frage, die ich ihm in den Kopf beamte. 

„396 Jahre, vielleicht älter oder auch jünger. Ich weiß es nicht. Es ist auch egal, findest du nicht? Ich mag die Zahlen. Die 3, die 6 und die 9. Schau sie dir an, sie sind perfekt.“ 

Ich war perplex. Zahlen sollten perfekt sein? 

„Nicht alle“, beantwortete er meine unausgesprochene Frage, „nur die 3, die 6 und die 9.“ 

„Ach, und warum?“, fragte ich. 

Er zuckte mit den Schultern. „Sie sind das Gegenteil und die Einheit. Sie sind ineinander und bauen aufeinander auf. Sie sind rund und gleichzeitig offen.“ 

„A-h-a.“ Ich dehnte die drei Buchstaben beim Sprechen in die Länge, denn ich verstand nichts und wollte Zeit gewinnen. 

„Du verstehst gar nichts“, frohlockte mein Gegenüber sogleich und grinste über sein ganzes spitzbübisches Gesicht. „Macht nichts. Sie sind ja auch meine Lieblingszahlen.“ Das Wort meine betonte er mich Nachdruck. 

Ich plumpste erleichtert im Stuhl zurück: Ich musste es nicht verstehen. 

„Meine Oma mochte die 7, die 4 und die 8 und zwar aus den gleichen Gründen, wie ich die 3, die 6 und die 9.“ Seine kleinen Hände untermalten jede Zahl, als wenn er ein Lied dirigieren würde. 

Ich kicherte. „Du bist witzig. Ich verstehe, jeder liebt seine Zahlen und sieht sie durch seine Augen.“ 

„Jo!“ Der Kleine rappte unbefangen auf seinem Stuhl hin und her. Seine Schultern vollzogen merkwürdig wippende Bewegungen im Gleichklang mit seinem wippenden Kopf. Die Arme begleiteten die Performance mit typischen Rappbewegungen und seine Lippen waren geschürzt. 

„Jo, jo, jo“, sang er. 

„Jo, jo, jo“, fiel ich ein und lachte. 

„Du lernst schnell“, meinte er ernst. 

„Ja, ich bin im Grunde pfiffig, war ich schon immer. Doch nun: Zeig her!“ Ich zeigte auf seine Hosentasche. 

„Okay.“ Er schien mich mittlerweile als vertrauenswürdig einzustufen und kramte in seiner, scheinbar sehr tiefen und sehr vollen Hosentasche. Schließlich legte er einen runden Taler auf den Tisch. Er war tatsächlich grauschwarz und wirkte wie dunkler Schiefer. Ein Bild prangte in seiner Mitte und ein goldener Ring lief an seinem äußeren Rand entlang. Auf wundersame Weise schien alles wie in Nebel gehüllt. 

Ich beugte mich tief über ihn, um das Bild zu erfassen, doch die wabernden Nebel zogen darüber hinweg. Es war unmöglich das Ganze auszumachen. Die einzelnen Teile ergaben jedoch keinen Sinn. 

„Das ist kurios. Warum kann mein Gehirn das ganze Bild nicht erkennen, wenn ich jede einzelne Facette erkennen kann. Mein Kopf muss doch in der Lage sein, die Teile zu einem Ganzen zusammenzusetzen.“ 

„Was, wenn es das Ganze nicht gibt, sondern nur Teile“, sagte der Gnom und sah mich mit seinem offenen Blick an. 

„Ach was, das geht doch gar nicht. Die Teile liegen eng beieinander. Sie müssen ein Ganzes ergeben.“ Angestrengt fixierte ich den Nebel und versuchte das Ganze zu erraten. 

„Vergiss es“, meinte mein kleiner Freund, „es geht nicht. Ich habe es Jahrhunderte lang probiert, bis ich aufgegeben habe. Keine Chance.“ 

„Darf ich?“ Ich griff nach dem Taler, nachdem er mir zugenickt hatte. Fasziniert wischte ich mit dem Daumen darüber. Der Nebel blieb. 

„Was ist das?“ Ich schaute fragend zu meinem Gegenüber. 

„Das ist die Wahrheit“, sagte der Kleine und sah mich erwartungsvoll an. 

„Das ist was bitte?“ Mein Mund blieb vor Erstaunen offen stehen. 

„Das ist die Wahrheit.“ Er blieb gelassen, ob meiner Unwissenheit. 

Nach einem Moment des Entsetzens verzog sich mein Mund zu einem schiefen Grinsen. 

„Verstehe.“ Ich schnipste den Taler in die Luft, so dass er sich drehte und klingend auf die Tischplatte fiel. 

„Hey!“ Der Gnom war empört. „Was soll das denn?“ 

„Ich weiß nicht, mir war danach. Wie viel hundert Jahre hast du noch gleich damit zugebracht, das Bild zu verstehen? Hey man und dann ist die Wahrheit eine lapidare, nicht mal schöne oder gar wertvolle Münze, deren Bild sich in Nebel hüllt.“ 

Ich drehte die Münze um und wurde wütend. „Siehst du! Sie hat nicht einmal zwei Seiten. Jede Seite ist gleich! Was für eine Unverschämtheit.“ Ich war kurz davor auf den Tisch zu hauen. 

Als ich aufsah, war der Platz mir gegenüber leer. Was war das? Wo war der kleine Mann? Meinem Instinkt folgend sah ich unter den Tisch. Da lag er und kringelte sich vor Lachen. 

„Ha, ha, ha! Ha, ha, ha!“ Er hielt sich den Bauch.

„Du kannst doch nicht einfach so über mich lachen!“ Verwirrt machte ich mich auf den Weg unter den Tisch und setzte mich neben ihn. „Hey, sag mir mal, wie du heißt.“ Ich stupste ihn an. 

„Hast du mir auch nicht gesagt“, meinte er und kicherte weiter hemmungslos vor sich hin. 

„Stimmt! Ich bin Isi.“ Ich hielt ihm meine Hand hin. 

Er ignorierte sie und küsste mich schmatzend auf die Wange. „Ich mag dich Isi. Ich bin Leopold.“ Seine Augen strahlten, durch das Lachen feucht geworden, noch mehr. Das Licht hier unter dem Tisch war gedämmt und ich hatte das Gefühl, dass wir in eine verwunschene Welt entschwunden waren.

Er erzählte: „Weißt du, ich fand es schön zu sehen, das auch andere so wütend über dieses kleine Ding werden können wie ich. Glaub mir, ich bin vor Wut darauf herumgesprungen, habe mit dem Hammer drauf gehauen und am Ende, als ich sozusagen am Ende war, habe ich es vergraben. Ich wollte mich nie, niemals wieder damit befassen. Ich fühlte mich an der Nase herumgeführt. Aber letztendlich Isi, letztendlich kann der Taler nichts dafür, dass wir die Wahrheit nicht erkennen können.“ 

Der unschuldige Taler lag dunkel zwischen uns auf dem Boden. Ich runzelte angestrengt die Stirn und stützte meinen Kopf in die Hände. Irgendeinen tieferen Sinn musste es hier geben. Ich schüttelte mich, als wenn ich dadurch meine Unwissenheit vertreiben und die Antwort einfacher in meinem Gehirn erscheinen könnte. Was kam, war nichts. Es kam nichts, nicht mal eine Idee. 

„Du weißt auch nichts, oder?“ Ich schielte zu Leopold hinüber. 

Seine Unterlippe schob sich nach Vorne und er schüttelte entschuldigend den Kopf. Zur Bekräftigung hob er die Schultern und seinen Hände fielen laut klatschend auf die Oberschenkel, als er sie wieder senkte. 

„Nö. Ich habe mich nur gefragt, ob es vielleicht kein Ganzes gibt. Das sagte ich vorhin bereits.“ 

„Du meinst, es gibt nicht die Wahrheit, sondern viele Wahrheiten?“, fragte ich und beobachtete weiter die Nebel, die über den Taler waberten. 

„Ah“, er wand sich, „vielleicht noch nicht einmal das.“ 

Ich nickte. „... noch nicht einmal das.“ Dann wiederholte ich erschrocken: „…noch nicht einmal das?“ 

„Naja, wenn es viele Wahrheiten geben würde, würde jeder verschiedene Dinge durch die Nebel sehen. Aber wir sehen beide nichts und jeder andere, dem ich den Taler gezeigt habe, sieht auch nichts. Keiner kann etwas erkennen. Alles liegt im Nebel.“ 

„Alles liegt im Nebel… .“, wiederholte ich. 

„Könntest du aufhören, ständig das gleiche zu sagen wie ich. Du hörst dich an, wie ein Papagei!“, meinte er lapidar. 

„Ich denke!“, sagte ich empört. 

„Denk leise.“ Leopold saß an meiner Seite und legte sanft den Kopf in meine Armbeuge. „Sag mir Bescheid, wenn du einen eigenen Gedanken hast.“ 

„Ich bemühe mich“, meinte ich und versank in Schweigen. Schwachsinn, dachte ich, Leopold kann eh meine Gedanken hören. 

„Stimmt, aber die kann ich leiser stellen.“ Leopold grinste. 

„Ehrlich? Wie ein Radio?“ Ich lächelte zurück. 

„Wie ein Radio“, bestätigte er. 

Schweigend saßen wir unter dem Tisch. Mir fiel nicht auf, dass ich die letzte viertel Stunde laut gesprochen haben musste. Wir saßen da, ich dachte und Leopold tat, was er tat. Der Ober sah unter den Tisch und fragte mich, ob ich noch einen Wein wolle und ob ich ein Kissen bräuchte. 

„Ein Wein wäre klasse, ein Kissen brauche ich nicht. Ich bin hier gleich fertig.“ Aus den Augenwinkeln sah ich Leopolds erstauntes Gesicht. 

„Kein Kissen?“, fragte er. 

„Kein Kissen“, antwortete ich. 

„Kein Kissen“, hörte ich die Stimme des Kellners von oberhalb des Tisches zu mir herunter klingen. 

Das hier war mein Lieblingsrestaurant, wenn ich in Köln war. Der Kellner kannte mich seit einiger Zeit. Er war echt nett, jetzt fand ich ihn richtig nett. Da heute nur ein weiterer Tisch besetzt war, war es ihm anscheinend egal, ob ich unter dem Tisch oder am Tisch saß. 

Ein paar Minuten später reichte er mir meinen Rotwein hinunter. Zusätzlich bekam ich ein Glas mit Salzstangen. „Zur Entspannung“, meinte er und ging. 

„Magst du Salzstangen?“ Ich hielt Leopold das Glas hin. Er schüttelte den Kopf. Ich hingegen steckte mir eine Stange in den Mund und kaute genüsslich. Ich liebte Salzstangen. 

„Ach man, ist doch auch egal, oder?“ Ich sah den kleinen, freundlichen Mann fragend an. 

„Genau! Ich glaube jetzt hast du’s“, er gähnte und wuschelte sich nachdenklich in den Haaren. 

„Hm?“, grunzte ich verständnislos, während eine weitere Salzstange in meinem Mund verschwand. 

„Die Wahrheit ist beliebig!“, klärte er mich auf. 

„Aber sie kann doch nicht egal sein!“ 

„Doch, wenn sie wichtig wäre und nicht beliebig, könnte irgendeiner sie entschlüsseln.“ Jetzt griff er nach den Salzstangen und biss in eine hinein. „Schau dir den Taler doch an.“ 

„Mach ich doch die ganze Zeit!“ Ich wollte nicht klein beigeben. Dann sagte ich versöhnlicher: „Vielleicht hast du recht. Aber das wäre entsetzlich! Woran soll man sich dann orientieren?“ 

„Das ist auch egal. Orientier dich daran, wo du dich dran orientieren willst“, antwortete er. 

„Du meinst, ich soll meinen Weg gehen, Leopold?“ 

„Genau, geh deinen Weg. Die Wahrheit ist flüchtig, wie die Nebel. Es gibt eine momentane Entscheidung und es gibt dein Gefühl. Du weißt niemals, was dich am Ende des Weges erwartet und gerade deshalb ist es wichtig, sich bei jedem Schritt wohl zu fühlen. Wie du dich wohlfühlen kannst, kann dir niemand sagen und deshalb gibt es die Wahrheit nicht“, Leopold ergriff meine Hand und streichelte sie. 

„Was ist, wenn ich dann sterbe?“, fragte ich. 

„Trotzdem weißt du nicht, ob ein anderer Weg dir mehr Gesundheit, ein längeres Leben oder nur mehr Unglück beschert hätte“, antwortete er. 

„So einfach ist es also.“ 

„Nein, es ist nicht einfach, doch es scheint so, das gebe ich zu. Ich bewundere die Menschen, die ihren Weg gehen, die sich für ihren Weg entscheiden. Es ist die Angst, die dich zögern lässt. Die Angst etwas falsch zu machen. Die Angst davor, dass es eine Wahrheit geben könnte, die du übersehen hast.“ Seine Arme legten sich um seine Knie, hielten sie fest und sein Blick glitt in die Ferne. 

Ich holte tief Luft und atmete stöhnend aus. 

„So schwer?“, fragte der Gnom mitfühlend. 

„Nein, so schön. Wisse, dass du nichts weißt. Den Satz habe ich mal aus einem Engelkartenset gezogen. Ich fand ihn total doof, denn ich wollte wissen und ich wollte verstehen. Aber jetzt ... .“ Während ich Leopolds Hand drückte, sah ich ihm tief in die schwarzen Kugeläugelein. „Du hast es gewusst! Wieso hast du es mir nicht gesagt."

"Hättest du mir denn geglaubt?" Er sah mich fragend an.

"Puh, ich ... ich weiß es nicht. Aber sag mir, warum hast du den Taler ausgegraben?“ 

„Ich habe ihn ausgegraben, weil ich ihn schön finde. Er macht mich nicht mehr wütend. Ich glaube, ich schenke ihn dir“, überlegte er. 

„Du schenkst mir die Wahrheit? Wie schön!“, rief ich verzückt aus. 

„Ja, wenn du möchtest, darfst du sie weiterschenken. Dir werden die Menschen zuhören. Vielleicht hilft es ihnen, ihren Weg mit mehr Mut zu gehen.“ Er lächelte verlegen. 

Ich nahm Leopold spontan in den Arm: „Vielen, vielen Dank, ich werde ihn in Ehren halten. Immer.“ 

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr. Ein Kopf schob sich unter der angehobenen Tischdecke hindurch. Hinterher kam ein männlicher Köper mit einem Glas Wein in der Hand. Mein Kellner kletterte zu mir unter den Tisch. 

„Wau, ist das ein schönes Licht hier unten“, meinte er, während er eine bequeme Sitzposition suchte. 

Ich lächelte ihn an: „Nicht wahr?“ 

„Ich bin Markus.“ Er hielt mir sein Glas entgegen und unsere Gläser klirrten leicht, als wir anstießen. 

Ich nahm einen Schluck und erwiderte: „Isi.“ 

Markus nickte in Richtung des leeren Glases: „Waren die Salzstangen gut?“ 

„Die besten, die ich je gegessen habe!“, erwiderte ich und sah in seine Augen. Ich hatte ihn schon oft angesehen, doch gerade jetzt erinnerten mich seine dunklen Augen an die von Leopold. Als ich mich nach dem kleinen Gnom umsah, war er fort. 

Ich sah auf den Taler in meiner Hand, dann zu Markus und ließ das kleine, runde Geschenk in meiner Hosentasche verschwinden: „Sag mal Markus, hast du schon über die Wahrheit nachgedacht?“ 

Sein Kopf ruht an einem Tischbein. Unter leicht geschlossenen Augenlidern sah er zu mir herüber. „Klar. Die Wahrheit ist flüchtig“, meinte er locker, während die Hand mit dem Rotweinglas lässig auf seinem Knie lag. 

Erstaunt hoben sich meine Augenbrauen. 

Er legte den Kopf schief. „Oder dachtest du, wir sitzen hier tatsächlich unter dem Tisch und trinken Rotwein? Hallo?!“ 

Ich schüttelte mich verwirrt. „Was? Hallo?“ 

„Hallo, ich wollte Sie nicht stören, nur fragen, ob Sie noch etwas trinken möchten, oder ob ich etwas anderes für Sie tun kann.“ 

Mein Blick fiel verwirrt auf den Kellner, der vor meinem Tisch stand, während ich – ganz normal – auf meinem Stuhl saß. Vorsichtig tastete mein Fuß unter dem Tisch nach einem Widerstand. Keiner da. 

„Die Rechnung bitte.“ Die Worte huschten schüchtern aus meinem Mund. 

Der Kellner machte kehrt und ich schaute ihm peinlich berührt hinterher, dann aus dem Fenster. Da sah ich eine kleine Hand die Äste des Busches zur Seite schieben und einer großen Nase folgte das Gesicht von Leopold. Er winkte. Erleichtert winkte ich zurück und schüttelte den Kopf. Was passierte hier? 

Als der Kellner zurückkam, legte er mir formvollendet die Rechnung auf den Tisch. Daneben postierte er einen kleinen weißen Teller: „Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses.“ 

Dort lagen zwei Schokoladentaler, eingepackt in schiefergraues Papier, umfasst von einem goldenen Rahmen. Mitten auf dem Taler war das Bild eines kleinen Gnoms zu sehen, der mich aus tiefdunklen, fast schwarzen Augen ansah. Eine Hand war zum Winken erhoben. 

Mir stockte der Atem. Mit offenem Mund griff ich nach dem Taler und strich ehrfürchtig mit dem Daumen darüber. Mein Blick huschte nach draußen zu Leopold, zurück zum Taler und schließlich hoch zum Kellner. Meine Kehle war wie zugeschnürt. 

„Oh“ meinte er, „Sie können ihn auch sehen.“ 

„Sie…“, ich stotterte, „Sie können ihn sehen?“ 

„Hmhm, kann ich. Hat er ihnen von der Wahrheit erzählt?“, fragte Markus. Ich hoffte, dass er tatsächlich so hieß. 

„Ich …, ja, hat er.“ Der Boden unter meinen Füßen bewegte sich. 

Markus setzte sich mir gegenüber und fragte: „Und wird er dadurch wahrer, dass ich ihn auch sehen kann?“ 

Hilflos hüpften meine Schultern in die Höhe. „Ich weiß nicht …, schon …, obwohl … .“ 

„Wir sind nicht mehr allein, nicht wahr? Je mehr Menschen etwas sehen können, desto wahrer wird es?“ 

Ich hatte meine Fassung wieder. „Sie heißen Markus, oder? Ich bin Isi. Darf ich du sagen?“ 

„Ja, Markus, sag du.“ Markus lächelte. 

Meine Hand verschwand in der Hosentasche, um den Taler herauszuholen. Sie tastete jeden Winkel ab, doch die Tasche war leer. 

Markus hatte mich beobachtet. Er griff nach meiner Hand und blickte mich direkt an. Bevor er etwas sagte, schwieg er einen Moment: „Isi, man kann die Wahrheit nicht besitzen.“ 

Ich presste die Lippen zusammen. Der kleine Taler hatte mir Sicherheit gegeben. Er war etwas Greifbares, etwas zum Anfassen, auch wenn ich nicht wirklich etwas erkennen konnte. 

Ich lehnte mich im Stuhl zurück und schaute traurig nach draußen. „Ich dachte, ich hätte es.“ 

„Aber du hast es doch! So wie man die Wahrheit nicht besitzen kann, kann man sie dir nicht nehmen. Nimm den Taler und Leopold mit in dein Herz und schlaf eine Nacht drüber. Vertrau dir. Selbst wenn du allein Leopold sehen könntest, wäre er da.“ 

Als ich schwieg, drückte er meine Hand. „Isi?“ 

Mit nach wie vor zusammengepressten Lippen, versuchte ich ein Lächeln. „Mach ich.“ Ich stand auf und reichte Markus die Hand. „Hat mich gefreut. Bis bald.“ Ich nickte ihm freundlich zu. 

„Mich auch. Hier, deine Schokolade.“ 

Das Antlitz von Leopold lächelte mir entgegen und berührte mich tief. Der kleine Mann hatte mir in den letzten Stunden so vieles beigebracht. Als ich draußen an Leopolds Busch vorbei kam, streckte ich spontan die Hand aus. 

„Komm Leopold, wir gehen schlafen und ich nehme dich und die Wahrheit mit in mein Herz.“ 

Unter dem Busch raschelte es. Leopold kam zum Vorschein. 

„Au fein!“, rief er freudig, griff nach meiner Hand und hüpfte pfeifend neben mir her. 

Hinter der Scheibe sah ich Markus lächeln. Ich zwinkerte ihm zu, fing ebenfalls an zu pfeifen und hüpfte mit Leopold die Straße entlang.

 

© Ilka Papendorf