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Wachstum

Knapp unter der Erde lag ein Korn. Es war bereit, zu wachsen. Es war bereit, sich auf den Weg nach oben zu machen. 

Voller Ungeduld saß es in seiner Höhle und hatte eine ganz genaue Vorstellung von seiner Zukunft im Kopf. Es wusste, wie seine Sonne aussehen sollte, wie die Luft um ihn herum sich anfühlen musste und es spürte, wie die Finger seines Windes ihm sanft das Gesicht streicheln würden, um ihn dort oben zu begrüßen. Ein wohliges Gefühl machte sich in ihm breit, wenn es daran dachte. 

Blinzelnd sah es sich in seiner Höhle um, drehte sich um die eigene Achse und dachte: "Verdammt, was hält mich noch hier? ... Ein bisschen mehr Wasser, ein wenig mehr Zeit, die Chance, mich mehr vorzubereiten? Und ist es nicht auch schön hier unten...?" 

Ein Kloß machte sich in seinem Hals breit, wanderte weiter in seinen Magen und es spürte, wie seine Schultern sich nach unten zogen, sein Kopf auf die Brust sackte und es unsicher wurde. Es war warm hier ..., dunkel, ... okay, aber man konnte sich mit allem arrangieren. Das geht, wenn man will. Langsam mutierte sein Magen zu einer Art Wäscheschleuder: Alles verknotete sich in ihm. 

"Wenn doch nur jemand hier wäre, der mich ans Licht führen könnte. Jemand, der mich an die Hand nimmt und mit mir den ersten Schritt tut. Ich bin so hilflos und allein", dachte das Korn. "Wie fatal diese Welt ist. Ich kann sehen und sitze im Dunkeln. Ich kann laufen und traue mich nicht, loszugehen. Ich kann denken und verheddere mich in meinen eigenen Gedanken. Ich kann fühlen und traue meinen Gefühlen nicht." 

Und das Korn wurde wütend. Es holte tief Luft und spuckte mit Nachdruck die Erde, die aus Versehen in seinen Mund geraten war, wieder von sich. 

Vorsichtig, ganz vorsichtig versuchte es mit einem Finger die Erdbrocken über sich zur Seite zu schieben. Es stellte ein Bein auf und legte mehr Druck in seine Bewegung. Voller Staunen stellte es fest, dass es so groß geworden war, dass es ohne Probleme an die Decke seiner Höhle stoßen konnte. Es legte beide Hände flach dagegen und drückte – und die dünne Erdschicht, die zwischen ihm und der Luft gelegen hatte gab nach. 

Etwas zog ihn nun mit Macht nach oben. Was für eine Kraft machte sich in ihm breit! Der Eindruck, der ihn dort oben empfing war atemberaubend schön. Es hatte sich ein derartiges Gefühl von Freiheit nicht vorstellen können. Doch jetzt war es da. 

Und das Korn dachte: "Es ist so leicht, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Das einzige, was man braucht, ist den Mut zur Bewegung." 

Es schloss die Augen und genoss die Sonne, die Luft und die sanften Finger des Windes auf seinem Gesicht. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. 


© Ilka Papendorf