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Jakob und die Freiheit

Ich erinnere mich, dass zu Zeiten meiner Jugend eine kleine Katze vollwertiges Mitglied unserer Familie war. Eines Tages erwischte ich sie, wie sie mit Hingabe an einem Puzzleteil kaute, das sie fest in ihren keinen Vorderpfoten hielt, während ihre Hinterpfoten rhythmisch dagegen traten. Sie sah aus, als wenn es in diesem Pappteilchen suchtähnliche Substanzen geben müsste, verzückt schloss sie immer wieder die Augen. 

Diese Ecke, die unsere Katze in solch ekstatische Wonnen entführt hat, die war das, was mir fehlte. Ganz bestimmt würde dieses Eckchen meines Selbst, mich in einen ähnlichen Zustand katapultieren. Ich hatte das Gefühl, dass an mir eine Ecke fehlte. Es fehlte nicht das ganze Puzzleteil. Es fehlte nur ein winzig kleines Eckchen.

Aber wie sollte ich dieses Eckchen finden? Zu welcher Zeit hatte welches Tier mir diese Ecke meines Selbstes weggefuttert? Die kalte Hand der Vergangenheit griff nach meiner Schulter. Sollte dort die Ecke fehlen? Instinktiv griff ich mit der Hand an meine rechte Schulter. Hier war der Ort in meinem Körper, der permanent verspannt war.

Ich würde jedoch nicht sagen, dass dort etwas fehlte. Es fühlte sich eher an, als wenn dort ein schwarzer Vogel saß, der seine Krallen zielsicher in die schmerzenden Stellen bohrte. Es war, als wenn er akribisch genau mit seinen orangefarbenen Augen meine Mimik beobachtete, um penibel den Punkt zu treffen, der am meisten schmerzte.

„Du ekelige kleine Krähe!“, sagte ich empört.

Das schien allerdings für ihn kein Schimpfwort zu sein. Er grinste feist und legte den Kopf schief.

Was fehlte, war also vielmehr eine fehlende Perspektive. Dieser perfide kleine Vogel versperrte mir die Sicht auf etwas, was wichtig war. Witzigerweise war es nicht der Blick nach rechts, den er mir verwehrte. Nein, am meisten schmerzte meine Schulterpartie, wenn ich den Blick nach vorne richtete - nach vorne!

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der hinterhältige Vogel seine Krallen erneut bewegte, um in meine Schulter zu hacken. Wie ein Orgelspieler kunstvoll die Pedale für die verschiedenen Tonarten tritt, spielte der schwarze Federbruder auf meinen Muskeln. Augenblicklich schmerzte mein Kopf, meine Augen drückten und der Schultergürtel spannte sich wie ein Gummiband. Der Vogel beherrschte sein Instrument aus meinen Sehnen und Muskeln virtuos.

Ich verlegte mich aufs Schmeicheln: „Das machst du hervorragend.“

Statt einer Antwort erntete ich ein höhnisches Grinsen und eine seiner Krallen hob sich erneut.

„Wie heißt du?“

Überrascht hielt seine größte Kralle mitten beim Herabsausen inne. Er setzte sie verwirrt eher vorsichtig ab und schüttelte sich, wobei sein Stirngefieder sich aufstellte und die Flügel sich leicht anhoben.

„Weißt du eigentlich, wie lange ich hier schon sitze und mein Lied auf deinem Körper spiele?“, fragte er vorwurfsvoll. „Und jetzt fragst du mich ganz lapidar nach meinem Namen?“

Hups! Hätte ich Federn, wäre ich jetzt an der Reihe, verwirrt die Flügel anzuheben.

„Was beschwerst du dich? Ich habe dich bestimmt nicht auf meine Schulter eingeladen. Wer hindert dich daran wegzufliegen?“

Er legte den Kopf schief, und nahm eine ähnliche Position ein, wie die, die ich nicht einnehmen konnte, ohne Schmerzen zu empfinden. Das empfand ich eindeutig als Affront. Süffisant grinsend überging er meine empörte Frage.

„Ich heiße Jakob“, sagte er.

„Jakob?“ Ich erschrak dermaßen, dass es mir für einen Moment die Sprache verschlug. „Ich erinnere mich an dich! Sag nicht, du bist...“ Ich konnte kaum weitersprechen vor atemlosem Erstaunen. “Bist du etwa der Jakob aus dem Buch? Die Krähe, der am Ende von seinem Besitzer die Flügel gestutzt werden und die abstürzt, als sie versucht, vom Balkon aus zu starten, um dem Himmel der Freiheit entgegen zu fliegen?“

Der schwarze Vogel sah mich erfreut an: „Die bin ich.“ Er begleitete jedes seiner Worte mit einem schüchternen Nicken. „Danke, dass du mich gleich erkannt hast.“

Ich fühlte mich in meine Jugend zurückkatapultiert. Es gab wenige Bücher meines Vaters, die mich fasziniert hatten. Es waren zwei, um genau zu sein. Das eine erzählte die Geschichte einer Freundschaft zwischen einem Delfin und einem Jungen und das zweite ging um die Freundschaft eines Jungen mit einer Krähe. An das Ende des ersten Buches konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber an Jakobs Ende sehr wohl.

Er starb, als er das machen wollte, was seiner Natur entsprach: Fliegen. Das, was er tief in sich spürte, kostete ihn das Leben, weil ein Mensch, dem er vertraute, ihm ein Eckchen seiner Federn abgeschnitten hatte. Genau die Ecke fehlte, die ihm erlaubte, seine Freiheit zu genießen und sich in die Lüfte zu erheben.

Jakob, er hatte sich ganz gefühlt. Alles war in Ordnung mit ihm, alles war dran: Federn, Flügel, leichte Knochen. Und doch hatte der entscheidende Zentimeter gefehlt, der ihm die volle Entfaltung seines Seins erlaubte.

Statt aufzusteigen, war er abgestürzt und gestorben. Er war gestorben, während er sich in die Arme des Menschen schmiegte, der ihn so sehr liebte, dass er ihn einsperren musste. Dieser Mensch hatte ihm das abgeschnitten, was ihm fehlte, um er selbst zu sein.

„Deine Flügel“, ich zeigte auf das schwarze Gefieder, „sind sie in all den Jahren wieder nachgewachsen?“ Ich stupste Jakob mit dem Finger an die Brust, wie einem alten Kumpel.

„Hey!“ Seine Kralle griff erschrocken nach meinem Finger, um die Balance zu halten. Ich bewegte den Finger leicht und kraulte ihm das Kinn.

„Meinst du wirklich, dass du noch nicht fliegen kannst, mein Kleiner?“, fragte ich ihn zärtlich.

Er ließ meinen Finger los, plusterte sich auf und schloss die Augen. „Hab ich ewig nicht mehr ausprobiert. Ich war so beschäftigt damit, dich zu piesacken.“ Seine Krähenstimme schnurrte. Er genoss meine Berührung augenscheinlich.

„Meinst du nicht, dass du erst rausfinden muss, warum ich bei dir bin?“, krächzte er aufgeregt.

„Hm, ich weiß nicht. Aber ich schätze, es geht darum zu erkennen, dass Liebe niemals bindend ist. Liebe ist ohne Forderung und lässt frei. Liebe lässt es zu, dass man seiner ureigenen Intuition folgen kann, egal, wie jemand anders darüber denkt. Liebe lässt ganz und beschneidet deine Wünsche nie.“

„Wau! Du bist schlau.“ Es klang irgendwie ironisch, als Jakob das jetzt sagte. „Und du denkst das wars und ich kann einfach davonfliegen?“

„Probiers!“ Meiner selbst sehr sicher stupste ich ihn erneut auffordernd an.

Jakob öffnete abrupt die Augen, tänzelte unruhig auf meiner Schulter hin und her und breitete seine Flügel aus, die er argwöhnisch beäugte. Trotzdem schlug er sie beherzt auf und nieder. Und dann war es, als wenn er die Luftmassen unter ihnen zusammenschieben würde und sich darauf ganz langsam, Stück für Stück nach oben arbeitete.

Und er flog! Für einen Moment schwebte er wie ein kleiner Hubschrauber über mir und schaute auf mich herab. Ein eindeutiger Laut der Freude entrang sich seiner kleinen Vogelkehle und schwoll zu einer ganzen Kaskade von johlenden Kreischlauten.

Ich lachte und winkte ihm zu. Nach einigen Runden um meinen Kopf flog er davon.

„Bye Jakob!“, rief ich ihm hinterher und eine Träne lief über meine Wange.

Ich ließ meinen Blick sinken. Meine Schulter war seltsam leer, aber herrlich entspannt. Noch einmal wanderte mein Blick zu dem fernen Punkt am Himmel, an dem Jakob verschwunden war. Ich kniff überrascht die Augen zusammen. Ein kleines, schwarzes Etwas kam aus der Weite und wurde schnell größer. Als Jakob jetzt auf meiner Schulter landete fühlte ich die vertraute Nähe, aber keinen Schmerz. Er sah mir in die Augen und rieb sein Köpfchen an meinem Kinn.

„Was tust du hier?“, fragte ich ihn verwundert.

„Dein Herz hat mich gerufen“, erwiderte er, steckte seinen Kopf unter einen Flügel und schlief ein.

Ich spürte die Wärme seines Körpers und legte versuchsweise den Kopf in die sonst schmerzvolle Position. Nichts passierte. Jakobs Krallen lagen entspannt auf meiner ebenso entspannten rechten Schulter. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein orangefarbenes Auge unter einem Vogelflügel hervorlugte und dass der kleine schwarze Vogel neben mir grinste.

„Was?“, fragte ich provokativ, musste aber instinktiv lächeln. „Da ist noch was anderes, oder?“

Jakobs Kopf schlüpfte unter seinen Federn weg. Er grinste tatsächlich.

„Ja, da ist noch was. Wahrscheinlich kann ich schon seit langer, langer Zeit fliegen. Ich habe mich nur auf mein Gefühl konzentriert, dass meine Flügel beschnitten sind.“

Ich holte tief Luft: „Du meinst… . Ich meine, das heißt, dass unsere Gefühle uns oft davon abhalten, die Wirklichkeit zu sehen, unsere wahre Größe zu erkennen und zu leben?“

„Naja, könnte doch sein, oder? Und das würde heißen, dass dein Puzzle fertig ist und du immer noch suchst“, antwortete er.

„Ich habe dich erlöst und ein Teil von mir ist jetzt perfekt!“ Ein breites Grinsen floss über mein Gesicht.

„Nein Süße, nicht nur ein Teil ist perfekt. Wir sind eins. Du bist ganz und gar perfekt, schon immer. Niemand kann dich beschneiden. Du musstest nur hinschauen, dann ist loslassen und finden eins und dein Herz öffnet sich.“

Meine Kehle schnürte sich zusammen: „Oh mein Gott!“ Ich musste arg an mich halten, um nicht laut loszuheulen.

„Der“, sagte Jakob schelmisch, „der weiß das schon lange.“

Er knabberte zärtlich an meinem Ohr und ich spürte, wie ihm mein Herz entgegen flog. Ich spürte verdammt viel Zärtlichkeit für dieses kleine Wesen, das mich so sehr geärgert hatte und ich fand es total normal. Es gab keinen Hauch von Wut und für keinen Penny Ärger in mir, nur Zärtlichkeit. Und ich spürte die Liebe, die zu fließen begann.

„Wenn es stimmt, dass du und ich eins sind, Jakob, dann verliebe ich mich gerade in mich selber.“

Ein leises Gurren, war alles, was von Jakob kam und er schloss verzückt die Augen.

Jakob ist immer bei mir. Er sitzt auf meiner rechten Schulter. Manchmal, spüre ich ein sanftes Ziehen und dann weiß ich, dass Jakob mich erinnert. Immer, wenn ich mich unvollkommen fühle, reibe ich meine Wange an seinen weichen Federn und suche nach der Zärtlichkeit, die ich für ihn habe.

Ihn kann ich vorbehaltlos lieben.

 

© Ilka Papendorf