Der Himmel war blau und mit kleinen Schäfchenwolken besprenkelt; ruhig und aufgewühlt zugleich. Es war ein frühherbstlicher Tag. Einer der letzten dieses Jahres, an denen die Sonne noch etwas Wärme ausstrahlte und an dem man ohne Sorge noch mit einer leichten Jacke durch den Wald spazieren konnte, um hier und da auf einer Wiese Platz zu nehmen und die klare Luft zu genießen.
An diesem Tag saß Jenny auf einer der Wiesen des Waldes und sog die Stille in sich auf. Kein Laut der doch so nahen Stadt kam bis hierher. Sie hörte nur die Stimme der Natur um sich herum, die sich in der Summe der Geräusche doch wieder nur zur Stille verband.
Sie schloss die Augen und entschwand in eine andere Welt. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Wiese, auf der sie saß und mit geschlossenen Augen gegen einen Baum lehnte. Es war als wenn ihr Geist auf Wanderschaft gegangen wäre. Sie schwebte! Ganz ohne Angst, schwebte sie davon, während ihr Körper in seiner Position verharrend unten auf der Wiese sitzen blieb.
Und während sie immer höher in den Himmel entschwand, spürte sie, dass etwas sie trug und ihr Sicherheit gab. Aber was? Was passierte mit ihr?
Erstaunt erkannte sie, dass ihre Arme und Beine, ja ihr ganzer Körper immer noch bei ihr waren, obwohl sie ihn doch da unten gesehen hatte. Ein Teil war hier und flog davon und ein Teil war dort unten und genoss die Stille. Ob sie wohl jemals wieder zusammenfinden würden? Doch als sie in sich hineinhörte, verspürte sie keine Angst bei diesem Gedanken und erkannte, dass die Beantwortung dieser Frage im Moment nicht wichtig war.
Sie sah sich um. Wer oder was trug sie? Langsam krabbelte sie umher. Dieses Etwas war weich und warm. Es nahm jede ihrer Bewegungen auf; entspannte dort, wo sie losließ und gab Halt, dort wo sie es berührte. Es gab ihr Sicherheit und sie fühlte sich geborgen. Sie krabbelte in die Mitte dieses Dinges, setzte sich in den Schneidersitz, die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf auf die Hände gestützt und sah sich um. "Natürlich", dachte sie auf einmal, "das ist eine Hand!" Sie saß auf einer riesigen, großen und doch wunderbar zarten Hand. Mittendrin!
"Nun gut", dachte sie laut und vielleicht auch etwas provozierend, "eine Hand - ich sitze auf einer Hand. Und wem - bitte schön - gehört sie?" Es kam keine Antwort, alles blieb still. Ein wenig Trotz machte sich in ihr breit. Irgendjemand entführte einen Teil von ihr von dem Rest ihres Körpers - wie immer das auch gehen mochte - und gab sich nicht zu erkennen. Das fand sie ganz und gar nicht fair. Sie wollte wissen, was das sollte, denn irgendeinen Sinn musste so etwas doch haben, oder?
So saß sie abwartend da und schwieg. Sie vertraute auf ihr Gespür, das ihr trotz allem immer noch Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Sie wurde ruhig. In diesem Moment vernahm sie eine Stimme. Ein wenig erschrak sie doch, als sie erkannte, dass diese Stimme nicht von oben kam, so wie sie es erwartet hatte.
Doch dann spürte sie die Zartheit, mit der sie sprach: "Hallo Jenny, ich bin Ramon, man nennt mich den "Hüter der Stille". "Hüter der Stille", dachte Jenny, mehr fiel ihr dazu nicht ein. Sie merkte, dass sie sich nicht traute es Ramon einzugestehen und dachte, dass es wohl das Beste sei zu schweigen und abzuwarten, was er noch zu sagen hatte. So schwieg sie, während ihr viele Fragen und mögliche Antworten durch den Kopf sausten.
"Hüter der Stille", dachte sie wieder und wieder schwieg sie. Seine Stimme hatte sie merkwürdig berührt und doch wurde ihr von Moment zu Moment klarer, dass niemand wirklich zu ihr gesprochen hatte. Die Stimme kam aus ihrem Innern. Sie war in ihr drin, ganz tief, ganz weit da drinnen. Sie musste ihn wirklich nicht hören, sie konnte seine Gedanken fühlen. Ein spannender und gleichzeitig etwas beängstigender Gedanke, denn wenn das tatsächlich so war, dann konnte auch "er" ihre Gedanken wahrnehmen. Jenny war sich nicht ganz sicher, ob sie wollte, dass jemand all das, was in ihrem Kopf vorging wusste. Alles, was sie bewegte - einfach alles mit jemandem zu teilen? Ob das gut war? Aber was konnte ihr jemand anhaben, dessen Stimme so angenehm war und in dessen Hand sie sich so sicher und geborgen fühlte?
Sie musste lächeln bei dem Gedanken. Ihre Mutter hätte sie jetzt "zu vertrauensselig" genannt. "Egal", dachte sie und sie spürte, dass Ramon die ganze Zeit ihre Gedanken begleitet hatte und auch er lächelte. Und von da an wusste sie, dass sie ihm tatsächlich vertrauen konnte. Er hatte ganz ruhig zugehört, all ihre Zweifel und Bedenken zugelassen, er war einfach nur bei ihr gewesen, ganz nah; und Jenny spürte, dass es gut so war.
"Nun gut", dachte Jenny, "jetzt habe ich den Hüter der Stille kennengelernt - und nun?" "Ramon", sprach sie ihn an, "Ramon zeig mir, was du behütest. Zeig' mir, was so wertvoll ist, dass es eines Hüters bedarf und was wir Menschen so oft suchen, ohne so recht zu wissen, wie und wo wir es finden sollen."
Ramon antwortete: "Ja, du hast recht, viele Menschen hasten umher, sie arbeiten zu viel, sie essen zu schnell und selbst die Freizeit ist verplant bis ins letzte Detail. Und wenn man ihnen all das nehmen würde, dann hätten sie das Gefühl, man hätte ihnen den Sinn ihres Lebens genommen. Sie können die Stille nicht mehr genießen. Sie tut ihnen weh , denn sie glauben, dass sie keine Zeit für sie haben. Keine Muße das Leben zu spüren, richtig zu spüren, so wie z.B. eine angenehme Musik, die deinen Körper durchfließt, wenn man sie nur lässt." Jenny merkte, dass sie nicht so ganz verstand, was er ihr sagen wollte. Stille und Musik, wenn sich das nicht widersprach...
Da versuchte Ramon zu erklären: "Stell dir vor du stehst auf der Tanzfläche und schließt deine Augen und während die Welt um dich herum langsam verschwindet, durchdringt die Musik deinen Körper. Die Finger beginnen sich zu bewegen, der Arm hebt sich, die Füße, die Beine - alles bewegt sich im Takt der Musik. Und wenn du bereit bist, dich ihr hinzugeben, nimmt sie dich ganz in ihren Klängen auf und zeigt dir ihren Rhythmus. Dieses Gefühl ist Leben und Stille zugleich. Man ist eins mit der Musik - wie in einem Kokon - mit sich und dem Klang der Stille allein; spürbares Leben - bis in die Fingerspitzen. Frag die am Anfang beschriebenen Menschen danach und sie werden die Achseln zucken und sie werden nicht verstehen, weil sie nie dieses Gefühl erlebt haben, etwas ganz in sich aufzunehmen."
Auch Jenny erwischte sich dabei, wie sie leise in sich hineinlächelte bei Ramons Beschreibung. Beschämt senkte sie den Blick. Wie weit war sie von ihrer inneren Ruhe entfernt? Und sie dachte an den Teil von sich, der mit geschlossenen Augen auf der Wiese saß. Sie war in den Wald gegangen, um der Stadt für eine Weile zu entfliehen, aber hatte sie damit auch die Stille gefunden? Langsam kam sie ins Grübeln. Stille - wie fühlte sie sich eigentlich an?
"Zeig' sie mir, zeig' mir die Stille, Ramon! Wozu bist du sonst gekommen, wenn nicht, um mir die Stille näherzubringen?" Sie war voller Tatendrang, doch von Ramon hörte sie nur ein leises Räuspern. "Tja, ganz so einfach ist das nicht", sagte er, "ich kann sie dir schon zeigen, aber es nützt dir nichts, wenn du nicht bereit bist, ihren Sinn zu erspüren und so eine für dich angenehme Form zu finden. Das eben war eine meiner Möglichkeiten die Stille zu spüren. Du wirst selber ausprobieren müssen, was dir am besten gefällt. Sag mir, was du ausprobieren möchtest und ich bringe dich hin."
Eigentlich fand Jenny das gar nicht so gut. Es wäre doch viel einfacher gewesen, wenn Ramon ihr ein paar Tipps gegeben hätte, noch ein paar Beispiele mehr sozusagen. Jenny hätte sich dann das Schönste rausgesucht und das hätte dann sicher auch bei ihr funktioniert. Sie hatte fast den Verdacht, Ramon wollte es ihr so schwer wie möglich machen. Schließlich behütete er die Stille. Vielleicht wollte er sie gar nicht hergeben? Oh je, ob er das wohl gehört hatte? Aber Ramon reagierte nicht. "Soll er doch schweigen", dachte Jenny trotzig, "ich werde es schon schaffen!"
Diesmal legte sie sich in die Hand, verschränkte die Arme unter dem Kopf, legte die Beine übereinander und schloss die Augen. In dieser Position konnte sie am besten nachdenken. Ihr fiel ein, dass sie immer gern mit ihren Eltern ans Meer gefahren war. Sie konnte sich noch gut daran erinnern. Damals war sie 15 oder 16 Jahre alt gewesen und die Nordsee hatte sie schon immer fasziniert.
Noch während Jenny nachdachte brachte Ramon sie an die See, ohne dass sie es merkte. Erst als sie den Wind in ihren Haaren spürte und den Salzgeschmack auf ihren Lippen wahrnahm, öffnete sie die Augen. "Was für ein intensiver Tagtraum!", dachte sie und lachte leise auf, als sie erkannte, wo sie war. Im Grunde hätte sie ja wissen müssen, dass sie Ramon gegenüber ihre Gedanken nicht aussprechen musste. Schnell setzte sie sich auf und sprang von der Hand in den weichen Sand.
"Danke!", rief sie in die Richtung, in der sie einen Kopf vermutete. Denn die Hand endete in einem Arm, den sie nicht sehen konnte, ja im Grunde war ihr gar nicht klar, ob sie überhaupt irgendwo endete. "Schon seltsam", dachte sie einen Moment. Doch dann lief sie davon, in die Richtung, in der das Meer sein musste. Sie spürte regelrecht seine Nähe und als sie über den Deich kam und über die Weite des Meeres blickte, nahm es ihr regelrecht den Atem. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie es vermisst hatte. Fast stiegen ihr die Tränen in die Augen und sie musste tief durchatmen. "Wie schön!", dachte sie. Ganz langsam ging sie nun auf das Wasser zu. Ließ ihren Blick schweifen und genoss den leichten Wind, der ihr das Gesicht streichelte.
Es war schon etwas dämmerig geworden und irgendwie war ihr nun auch kühl, doch sie hatte sich ja viel vorgenommen! Also ignorierte sie die leichte Gänsehaut und setzte sich ganz nah am Wasser in den Sand. Der Strand war menschenleer. Weit draußen sah sie die Gischt auf den höheren Wellen, sie beobachtete, wie sie langsam auf den Strand zuliefen und sich irgendwo verloren. Das Meer rauschte seinen ewigen Singsang vor sich hin. Es sah fast so aus, als wenn die Wellen sich im Takt zu einer imaginären Musik bewegten. "Oh, ja", dachte sie, "das ist ein Teil meiner Stille. Hier kann ich ruhig werden. Hier fühl` ich mich wohl und geborgen."
Wie hatte sie nur fast vergessen können, wieviel ihr das Meer bedeutete? Früher war sie doch so oft hier gewesen und das nicht nur bei Sonnenschein! Sie liebte die See auch wenn sie gewalttätig und grausam erschien. Wenn die Wellen sich so hoch auftürmten, dass sie auf sie herunterschauen konnten. Sie kämpfte gerne gegen den Sturm, der dann so kräftig war, dass er sie fast umriss - aber bisher hatte sie seiner gewaltigen Kraft noch immer trotzen können! Sie nahm sich vor, jetzt öfter hierherzukommen.
So langsam wurde es richtig dunkel und doch ganz schön kalt. Sie wollte gehen. Wer weiß, wie es dem anderen Teil ihres Körpers erging, schließlich saß der ja immer noch auf der Wiese im Wald. Sie musste sich leicht schütteln bei dem Gedanken. Da spürte sie Ramons Nähe und sah gleichzeitig, wie die Hand herniederschwebte. Sie stieg schnell auf und ganz vorsichtig schloss er die Finger zu einem Baldachin, so dass Jenny von der Wärme seiner Finger ganz schnell selber wärmer wurde. Sie gähnte lautlos und eh` sie sich richtig darüber im Klaren war, fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
Sie träumte. Im Traum kamen viele Erinnerungen in ihr hoch. Sie träumte von Dingen, die schön länger vorbei waren und von Dingen, die sie erst vor kurzem erlebt hatte. Einige Zeit sprangen die Bilder in ihrem Leben hin und her, doch dann sah sie ganz intensiv und deutlich das Bild einer Kerze vor sich auftauchen.
Anfangs war es nur die Flamme, die sie sah. Sie brannte ruhig und warm in der Dunkelheit. Dann wurde das Bild größer, wie ein Zoom im Fernsehen, und sie sah ein Paar Augen im Kerzenlicht leuchten. Es waren angenehme, schöne Augen. Als das Bild größer wurde, erkannte sie einen Freund. Und dann erkannte sie das ganze Zimmer. Es war sein Zimmer und sie selber lag auf seinem Bett in ihrer Lieblingsposition und beobachtete ihr Gegenüber mit halb zusammengekniffenen Augen. Ein wohliges Gefühl durchlief sie, als ihr Geist sich selbst im Traum an diese Situation erinnerte.
Sie hatte Mike vor ca. acht Jahren kennengelernt. Mittlerweile war er wieder aus ihrem Leben verschwunden, aber die Erinnerung an ihn war noch wach in ihr. Damals hatte er mit seiner Art zu leben ein sanftes Chaos in ihrer kleinen, von den Eltern behüteten Welt ausgelöst. Er war anders, als alle, die sie vorher kennengelernt hatte. Er schien alle Regeln zu durchbrechen und trotzdem glücklich dabei zu sein. Er liebte und wurde geliebt.
Auch Jenny hatte ihn ein lieben gelernt, aber viel wichtiger war ihr seine Freundschaft. Damit verband sie endlose Diskussionen, lange Spaziergänge am Meer, chaotische nächtliche Exkursionen und lange kuschelige Abende - Nähe! Ihre Lebenserfahrungen waren so unterschiedlich, dass sie nie müde wurde ihm zuzuhören und ihre Nähe war so nah, dass sie einfach nur neben ihm liegen konnte. Sie konnten miteinander schweigen und es kam nie ein ungutes Gefühl dabei auf. Sie waren sich so nah wie Jenny es nie vorher erlebt hatte.
Die Szene von der sie gerade träumte, spielte in der einzigen Nacht, die sie bei ihm verbracht hatte. Sie waren den ganzen Tag umhergefahren und am Abend am "Lands End" gelandet, dem Teil der Stadt, wo das Land immer schmäler wurde und das Meer schließlich an beiden Seiten zu sehen war; fast wie auf einer Insel, sofern man in die richtige Richtung schaute. Es war schön, dass er das Meer genauso liebte, wie sie. Jetzt waren sie wieder in seinem Zimmer gelandet, hatten es sich gemütlich gemacht und lange diskutiert.
Als Jenny so dalag und ihn durch ihre zusammengekniffenen Augen betrachtete, erwischte sie sich dabei, wie sie sich noch mehr Nähe wünschte. Wie nah durfte er ihr kommen? Gab es mehr Nähe, als sie schon miteinander spürten? Es kribbelte im Bauch und sie schloss verlegen die Augen. Ob er spürte, was in ihr vorging? Vorsichtig spähte sie zu ihm herüber. Immer noch sahen sie seine Augen durch die ruhig brennende Flamme hindurch an. Er lächelte; er hatte verstanden. Langsam krabbelte er um die Kerze herum auf sie zu. Sie erschrak und stützte sich rücklings auf ihre angewinkelten Arme, so dass ihr Oberkörper ein wenig höher kam. Mike setzte sich hinter sie, zog sie unter den Achseln zu sich heran, so dass sie ganz nah und ineinander verschachtelt dasaßen. Er legte von hinten beide Arme um Jenny, drückte sein Gesicht in ihre Haare und hielt sie einfach nur fest. Und es war einfach nur schön - nicht mehr und nicht weniger.
Im Traum erkannte Jenny, dass dies ein weiteres Mosaiksteinchen ihrer Art Stille zu erleben war. Die Nähe eines wirklich guten Freundes, der ihr nah war, ohne sie zu berühren und der sie berühren konnte, ohne ihr zu nah zu kommen. Der Traum verblasste und sie schlief ruhig und tief, in der inneren Gewissheit, dass sie ihrem Ziel ein wenig näher gekommen war.
Als sie früh am nächsten Morgen die Augen aufschlug, dachte sie als erstes voller Entsetzen an den anderen Teil ihres Körpers, der wohl die ganze Nacht im Wald verbracht hatte. Das konnte eigentlich nicht gutgegangen sein. Die Nächte waren empfindlich kalt, auch wenn sich tagsüber ab und zu die Sonne durchsetzte und wärmende Strahlen auf die Erde schickte. Sie rief nach Ramon und war kurz davor, ihn für diesen Leichtsinn zu beschimpfen. Was hatte er sich dabei gedacht? "Was ist mit dem Rest meines Körpers", fragte sie ihn, "werde ich ihn jemals gesund wiederfinden?" "Keine Angst", sagte er, "wir haben so viel Zeit für unsere Reise, wie du brauchst, um ein großes Pensum an Stille mit nach Hause zu nehmen. Ich verspreche dir, ich werde euch beide gesund wieder zusammenbringen und unversehrt zu einer einzigen Jenny vereinen."
Jenny fand, dass sie schon ganz schön viel gelernt hatte, über sich und die Stille. Vor allem war ihr klar geworden, wie wichtig es ist, sich selber nah zu sein. Zu wissen was zu seinem eigenen Empfinden gehört und wann man sich einfangen lässt, von den Verlockungen des Miteinanders in dieser schnelllebigen und lauten Welt. Nähe und Gefühle zulassen können, sich und anderen gegenüber, ganz ehrlich und unbefangen und ohne verletzlich zu werden, das bedeutet, in sich selber zu ruhen, ausgeglichen und gelassen durch die Welt zu laufen und auch die Stille zulassen zu können. Jeder kann einen Weg dazu finden, wenn er bereit ist von sich aus den ersten Schritt zu tun, dessen war sich Jenny mittlerweile sicher.
Jenny war stolz auf sich. Jedes Erlebnis barg eine ganze Anzahl von Erinnerungen und Anregungen in sich. Ne' Menge Stoff für die nächste Zeit, um nachzudenken. Eines jedoch - und eigentlich war es das Naheliegendste - hatte sie glatt übersehen. Denn schließlich war sie in den Wald gegangen, um abzuschalten und allein zu sein.
Als sie von zu Hause losgelaufen war, war sie sich noch nicht sicher gewesen, wo sie hin wollte. Doch dann war sie wie von selbst im Wald gelandet. Sie lief Querfeldein, mitten durch die dichten Bäume, denn sie mochte die vielbevölkerten befestigten Wege nicht. Mittendrin hatte sie viel mehr das Gefühl, ganz allein mit sich und der Natur zu sein. Um sich herum die Bäume, über sich der blau-weiß gesprenkelte Himmel und ansonsten nur die Stimme der Natur.
So war sie auf der Wiese gelandet. Es war so schön warm und ruhig hier, dass Jenny sich einfach setzen musste. Sie wollte nur dasitzen und das Bild in sich aufnehmen. Doch dann hatten sich ihre Augen geschlossen und viele Gedanken waren ihr durch den Kopf gegangen. Es fiel ihr schwer sie zu fassen und zu ordnen, sie surrten wie ein Bienenschwarm in ihrem Kopf hin und her und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Diese Erinnerung tat Jenny fast weh, denn eigentlich war es ihr in dieser Umgebung immer gelungen, abzuschalten.
Unruhe hatte sie gepackt, als sie daran dachte, was zu Hause alles zu erledigen war und was in den nächsten Tagen auf sie zukam. Sie hatte keine Zeit für die Stille gehabt und so hatte sie sie nicht finden können. Sie war überlagert von dem Stress, den sie sich selber machte. Nur war sie lange nicht bereit gewesen, es sich einzugestehen. Ganz lange, waren es immer die Anderen oder die Umstände, die ihr die Zeit stahlen. Dass sie ganz allein für sich verantwortlich war, diesen Gedanken hatte sie nicht zu gelassen.
Als sie sich jetzt aus der Distanz an alles erinnerte, wurde es ihr klar. Sie war am Beginn ihrer Reise wie die Menschen gewesen, die Ramon beschrieben hatte. Sie hatte mit den Achseln gezuckt und sie hatte nicht verstanden. Ramon hatte recht, wenn er sagte, dass jeder seinen eigenen Weg zurück zur inneren Ruhe finden musste. Jenny war ihm sehr dankbar dafür, dass er so viel Geduld mit ihr gehabt hatte. Da meldete Ramon sich in ihren Gedanken. Wieder hatte er begleitet, was in ihrem Kopf vor sich ging und diesmal war Jenny sich sicher, dass sie damit einverstanden war, dass er alles wusste, was sie in den letzten eineinhalb Tagen gedacht hatte.
Ramon lächelte, als er sagte: "Jenny, ich bringe dich zurück zur Wiese. Du brauchst im Moment nicht weiterzureisen, denn du hast verstanden, was ich dir zeigen wollte. Es gibt bestimmt noch eine Menge mehr, was du über dich erfahren kannst. Aber lass dir Zeit damit. Nimm die Erfahrungen, die du gemacht hast mit nach Haus und lass sie langsam auf dein Leben wirken. Jetzt wo du alles noch einmal bewusst erlebt hast, kannst du es auch bewusst in dein Leben einbauen. Und wenn du bereit bist für neue Erfahrungen, werde ich da sein und dich begleiten."
Jenny war eigentlich traurig, dass sie ihn schon verlassen sollte. Sie hätte gerne mehr von ihm kennengelernt und erfahren, woher er kam. Aber irgendwie war ihr klar, dass er immer in ihrer Nähe sein würde und wissen würde, wenn der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Reise erneut losgehen konnte. Und mit diesem Gedanken fühlte sie sich wohl.
Sie schloss die Augen und eh` sie sich versah, saß sie wieder am Baum und träumte. Die Gedanken sausten -wie gestern?- durch ihren Kopf und es wurde ihr klar, dass nur einige Minuten vergangen sein konnten, seit sie ihren Körper verlassen hatte. Sie entspannte sich und der Strom der Gedanken ebbte ab, bis sie ruhig dasaß und nur die Stille spürte. Warm und wohlig durchströmte sie ihren Körper und hüllte sie ein. Nach einiger Zeit öffnete sie die Augen, stand langsam auf und richtete ihren Weg in Richtung Stadt. "Wie wichtig es ist", dachte sie lächelnd, "wenn man seine innere Stimme wahrnehmen kann. Sie hat eine Menge zu sagen." Oder ... war sie vielleicht ein "er"?
© Ilka Papendorf